Die müde Tropenstadt

Antsiranana in Nordmadagaskar hat weit bessere Zeiten erlebt. Die Stadt hat sich seit dem Abzug der französischen Fremdenlegion vor rund 25 Jahren wirtschaftlich nicht erholt. Lokalpolitiker erhoffen einen Aufschwung durch den Föderalismus.

Auf dem Hügelsporn hoch über dem Wasser dreht Marschall Joffre der Stadt den Rücken zu. Sein Blick geht über den Hafen und hinaus auf die 250 km2 grosse Bucht. So unbeirrt die Statue heute blickt, so konsequent war der Mann. Vor rund hundert Jahren gab der im Dienste der französischen Kolonialadministration stehende Joffre der Stadt ihr heutiges Gepräge. Antsiranana im Norden Madagaskars orientiert sich noch heute entsprechend der damals festgelegten Stadtaufteilung. Zwei Einbahnstrassen dominieren die nördliche Hälfte der Stadt. Sie führen hinaus zum Joffre Platz und somit zur Spitze der Halbinsel, auf der die Stadt gebaut ist. In der südlichen Richtung fächern sie aus in die Raster der Wohnquartiere.
Diego-Suarez, wie Antsiranana bis 1975 genannt wurde, ist die kosmopolitischste Stadt Madagaskars. Der Wind des Indischen Ozeans brachte Einwanderer aus den benachbarten Komoren, aus Ostafrika und Indien. Die Franzosen holten die dringend benötigten Hafenarbeiter aus Djibuti und Jemen. Einwanderer kamen aus allen Regionen Madagaskars. Auf dem belebten Stadtmarkt liegt das gesammelte Heilkräuterwissen des Indischen Ozeans aus: Muscheln und Wurzeln, Samen und Blätter gegen alle Schmerzen und Leiden dieser Welt. Viele Männer kauen Khat. Die Blätter werden jeden Morgen frisch aus dem Dorf Andasibe per Taxi Brousse herangefahren.

Mitten in der Stadt finden sich Maisfelder und wachsen Maniok und Bananenstauden. Breit ausladende Mangobäume spenden Schatten. Auf das Blechdach des Lokalbüros von Air Madagaskar knallt ab und zu eine müde Mango aus der schattigen Krone. Ziegen grasen Verkehrsinseln ab, Verkehrsampeln gibt es keine. Allein die Flamboyant-Bäume setzen mit ihren roten Kronenblüten Farbtupfer ins Grün der Vegetation und ins Grau der Steinhäuser.
Fassadenpflege gehört nicht zu den Prioritäten der Bewohner. Viele betrachten sich auf der Durchreise, die allerdings ein ganzes Leben dauern kann. Wie etwa die ansässigen Inder, die ihr eigenes Leben in die viel wichtigere Kette der Familiengenerationen einbetten. Ihr Beziehungsnetz folgt anderen Koordinaten, ihr Privatleben mischt sich nicht mit der Lokalbevölkerung.

Die stille Beschaulichkeit wurde durch den Zweiten Weltkrieg nur kurz unterbrochen. Die Ereignisse liessen die Vichy-kontrollierte Insel Madagaskar zu einem unwichtigen Kriegsschauplatz werden. Antsiranana wurde am 5. Mai 1942 zum Sprungbrett der alliierten Eroberung. Während sich die Franzosen in der Stadt und am östlichen Buchteingang verschanzten und ihre Kanonen auf die britischen Fallschirmpuppen richteten, landeten die Alliierten auf der Gegenseite und nahmen nach kurzem Gefecht die Windsor Castle genannte Felsenfestung ein. Am Nachmittag marschierten sie in die Stadt ein. Die Franzosen flohen gegen Süden und ergaben sich erst nach fünf Monaten und 1600 km weiter südlich in Ambalavao. Die Engländer traten die Stadt den DeGaulle-Franzosen ab und zogen anderen Kriegsschauplätzen entgegen. Aus Diego-Suarez wurde wieder das, was die Stadt schon seit Beginn der Kolonialzeit vor hundert Jahren war: eine Marinebasis. Das brachte Geld in die Stadt und eine gewisse Ordnung.
Beides fehlt heute, denn die Legionäre zogen 1973 ab, als Madagaskar unter Ratsiraka eine immer steilere Linkskurve nahm. Seither trauert Diego um Franzosen und Geld, und lässt sich gehen. Doch noch immer schimmert eine gewisse Würde und eine alte Herrlichkeit aus den angefaulten Mauern. Die heute 140000 Einwohner träumen, wie die Häuser und Strassen, besseren Zeiten entgegen. Und hoffen, sie im Föderalismus zu finden.
Die kleinste der sechs Provinzen Madagaskars stellt nur 10% der Landesbevölkerung, erwirtschaftet aber mit Vanille, Kaffee und Pfeffer rund einen Drittel der Exporterlöse. Das stark auf die 1200 Strassenkilometer entfernte Hauptstadt Antananarivo ausgerichtete Verwaltungssystem soll aufgebrochen werden. Dafür gab es gar vor vier Jahren sogar acht Tote. Geschehen ist trotz den Volksdemonstrationen nichts. Die von der Zentralregierung eingeleitete Dezentralisierung lässt in Diego bislang keine Früchte spüren. Eine der Graffity klagt die centralistes totalitaires an.

Abends werden die Seitenstrassen zu erweiterten Wohnstuben der Anwohner. Kinder machen Hüpfspiele und Frauen sitzen auf Bastmatten unter den wenigen Strassenlampen und sticken. Gegen neun Uhr wird die Temperatur erträglich und um Mitternacht angenehm.
Die Taxi fahren zu einem Fixpreis, was es sonst in Madagaskar nicht gibt. Eine Taxifahrt in der Stadt, egal welcher Länge, kostet soviel wie eine Tageszeitung, die jeden Tag aus der Hauptstadt eingeflogen wird. Der öffentliche Verkehr funktioniert nicht mehr, die von den Japanern geschenkten Busse rosten vor der Stadt dahin. Schulkinder werden auf der Ladepritsche eines Lastwagens transportiert.

Die Bucht wurde vor dreihundert Jahren von Piraten entdeckt. Sie errichteten die Piratenrepublik Libertalia, die auf Gleichheit und Solidarität unter den Seeräubern aufbaute. Erst im letzten Jahrhundert verjagten die Engländer die Seeräuber, und die Franzosen setzten sich auf der Halbinsel fest. Parallel zur Marinebasis entstand eine Werft. Das 1973 verstaatlichte Unternehmen führt heute mehr Reparaturen als Schiffskonstruktionen durch und ist nicht rentabel.
Der einzige weitere Industriebetrieb ist eine neuerbaute Thunfischfabrik. Sie hat dem Hafen einen bescheidenen Aufschwung gebracht. Doch die Fabrik belästigt die Quartiere der Stadt mit ihren penetranten Ausdünstungen. Die 100000 Tonnen Thunfisch pro Jahr, herangeschafft von zumeist spanischen und französischen Trawlern, verschaffen jedoch Arbeitsplätze im Hafen und in der Fabrik und die landhungrigen Matrosen bringen Geld und Aids.

Der Handelshafen schlägt jährlich 2000 Container um. Mehr werden es kaum, denn der Hafen bedient ausschliesslich das nähere Hinterland. Im Hafen rostet die auseinandergebrochene Karthala vor sich hin, davor ein japanisches U-Boot aus dem Zweiten Weltkrieg. Und in der Bucht ragen Schiffsmasten aus dem Wasser: die Schiffe wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört oder von Zyklonen versenkt.

Franz Stadelmann

Diese Reportage erschien am 1. Februar 1997 in der Neuen Zürcher Zeitung.

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