Frühes Industriezentrum in Madagaskar

Mit einem gewaltigen Industriezentrum versuchte Madagaskar vor 150 Jahren, sich von teuren Importen zu befreien. Wichtigstes Ziel war die Waffenproduktion. Der Initiator war ein französisches Universalgenie.

Das Städtchen Mantasoa liegt anderthalb Fahrstunden von der Hauptstadt Antananarivo entfernt. Übers Wochenende bevölkern gutbetuchte Madagassen und einige Europäer die Ferienhäuser am Lac Mantasoa, einem buchtenreichen Stausee.
Das lokale Technische Gymnasium ist auf dem Grundstück der einst grössten Industrieanlage Madagaskars erbaut. Ein Teil der Gebäude wurde vor über 150 Jahren aus Stein errichtet und wird heute noch benutzt. Der über zehn Meter hohe Hochhofen zum Schmelzen von Eisen steht intakt, jedoch unbenutzt, am Fuss eines Hügels. Ein Keramikofen erhebt sich über dem Fussballfeld. Der Hügel ist heute noch terrassiert und von überwucherten Ringwegen umgeben. Sie führten einst zu den 3000 Unterkünften der Arbeiter. Ein paar Stauseen sind zu Teichen versumpft.
Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich hier das erste und für lange Zeit das wichtigste Industriezentrum Madagaskars: hergestellt wurden Glas und Kanonen, Seife und Papier. Mantasoa war die erste Industriestadt Madagaskars.

Ausgehend von den Königshügeln rund um die heutige Hauptstadt Antananarivo schuf König Andrianampoinimerina um 1800 den ersten Kern eines madagassischen Reiches. Sein Sohn Radama I erweiterte den Einflussbereich mit einer aggressiven Eroberungspolitik und öffnete dem Binnenreich den Weg zum Meer. Zur Modernisierung seiner Armee stützte er sich auf französische und britische Militärberater. Um die Armee und ihre Eroberungen zu finanzieren, wurden Sklaven gegen Gewehre getauscht.
Radama liess britische Missionare ins Land mit der Auflage, Schul- und Handwerkerunterricht zu erteilen. Dass sie auch missionarisch tätig waren, tolerierte er. Sein plötzlicher Tod brachte 1828 seine Frau an die Macht, die der zaghaften Öffnung Madagaskars ein Ende setzte. Ranavalona I wies 1835 die Missionare aus dem Land, verfolgte die konvertierten Christen und stützte sich auf die Traditionalisten. Ihre restriktive Politik isolierte das Reich politisch und verunmöglichte Handelsbeziehungen.
Darunter litt insbesonders die Armee, die einerseits noch weitere Gebiete auf der Insel erobern und zudem das Reich gegen die Europäer verteidigen sollte. Einen Ausweg aus diesem Abseits fand ein junger Schiffbrüchiger.

Der Franzose Jean-Baptiste Laborde wurde 1832 an der Ostküste in der Nähe von Mananjary an Land gespült. Er fand Unterschlupf beim französischen Handelsagenten De Lastelle. Laborde hatte in Indien ein Handelshaus gegründet und war auf Schatzsuche an die Küste von Moçambique unterwegs. Zudem hatte der 27-jährige Laborde in Indien kleine Kanonen hergestellt. De Lastelle wusste, dass die Königin fähige Handwerker und Techniker suchte, die Waffen und Schiesspulver herstellen konnten. Unverzüglich stellte er seinem Landsmann ein Empfehlungsschreiben an die Königin aus. Laborde wurde sofort für zwei Jahre angestellt.

Mit angelernten Arbeitskräften sollte Laborde in erster Linie 4000 Gewehre herstellen. Die Königin kaufte sie ihm für einen Piaster pro Stück ab, wobei Arbeitskräfte und Material vom Reich gestellt wurden. Erst arbeitete Laborde in Antanamanjaka in der Nähe von Antananarivo. Dort betrieb ein anderer Franzose bereits eine Giesserei zur Waffenherstellung. Laborde schaffte es bald, pro Tag ein Gewehr herzustellen.
1837 verlegte Laborde seine Produktion nach Mantasoa (61 km östlich der Hauptstadt) und baute dort mit 20000 Zwangsarbeitern innerhalb von zwei Jahren das erste Industriezentrum Madagaskars auf, das er Soatsimanampiovana (das unveränderlich Schöne) taufte. Fortan produzierte er mit 3000 bis 4000 Zwangsarbeitern, verurteilten Christen und Sklaven, Artikel aller Art.
Die wichtigsten Erzeugnisse waren Gewehre, Kanonen (gekennzeichnet mit R.M.: Ranavalona Manjaka, Ranavalona Königin), Schwerter, Speerspitzen und Schiesspulver. In Mantasoa wurden aber auch Glas, Seife, Papier, Sirup, Käse, Wein, Spirituosen und vieles mehr fabriziert. Laborde bildete sich ständig durch technische Bücher weiter und setzte die Erkenntnisse sofort um.

Über den 130 Kilometer entfernten Hafen in Mahanoro an der Ostküste, wo De Lastelle aktiv war, importierte er die nötigen Maschinen aus Frankreich und Kupfer aus Ceylon. Offen bleibt die Frage, ob Laborde wirklich alle Kanonen selbst herstellte - oder die besseren Stücke nicht via den verschwiegenen Hafen seines Freundes De Lastelle importierte. (Eine identische Kanone unbekannter Herkunft, gekennzeichnet mit R.M., findet sich seltsamerweise in Lourdes.)

Diese Industrieprodukte gaben dem zunehmend isolierten madagassischen Staat eine gewisse Autonomie. Königin Ranavalona I besuchte Mantasoa 1847 - im Gefolge von 20000 Personen. Zufrieden mit den Anlagen übergab sie dem unersetzlichen Laborde mehrere Male grosse Summen Geld, die sie dem Volk durch Sondersteuern abgepresst hatte.

Laborde war nicht nur in seinen Industriebetrieben in Mantasoa tätig. Für Ranavalona I baute er auf dem Königshügel in Antananarivo ab 1838 den 39 Meter hohen fünfstöckigen Holzpalast Manjakamiadana. Der riesige Zentralpfeiler aus Ebenholz wurde von 6000 Sklaven aus den östlichen Waldgebieten hergeschleppt. Der 32 auf 22 Meter grosse Palast, das damals grösste Gebäude Madagaskars, wurde in zwei Jahren fertiggestellt.

Der Missionsarchitekt James Cameron wurde 1869 beauftragt, um dieses Holzhaus eine Verkleidung zu legen. Cameron wollte wohl die Dominanz von Stein über Holz - oder von Protestantismus über Katholizismus - beweisen. Jedenfalls liess seine Steinarchitektur die fragile Anmut des Holzes untergehen. Von diesem von weither sichtbaren dominierenden Palast steht nur noch der steinerne Mantel: im November 1995 wurde der von Laborde gebaute hölzerne Kern das Opfer eines Brandanschlags.

Laborde musste auch technische Rückschläge hinnehmen: sein 1850 begonnenes Projekt, eine 18 km lange Wasserleitung bis hoch zum Königinnenpalast zu ziehen, scheiterte nach vier Jahren Arbeit kläglich, weil die lehmgebrannten Röhren dem Wasserdruck nicht standhielten.

Andererseits führte er Blitzableiter ein und bewahrte dadurch die aus Holzhäusern bestehende Hauptstadt wohl vor mancher Feuersbrunst. Die heute noch von den Bauern gebrauchten Ochsenkarren mit ihren wuchtigen Holzrädern (charetty) wurden von Laborde entwickelt. Ebenso tat er sich als Architekt von Grabmalen hervor. So baute er für den 1852 verstorbenen Premierminister Rainiharo, dem favorisierten Liebhaber von Königin Ranavalona I, ein wuchtiges Steinmausoleum im Stadtteil Isotry. Der Stil des düster und schwer wirkenden Grabmals mit den grossvolumigen Steinquadern wurde von der Aristokratie sofort übernommen und gilt heute als die typische, zentralmadagassische Grabkunst.

Das Schicksal von Laborde hing eng vom Goodwill der Königin ab. Königin Ranavalona I hegte eine generelle Abneigung gegen das Christentum und gegen die fremden Sitten und pflegte eine starke Vorliebe für die althergebrachten Traditionen. Zudem hatte sie eine panische Furcht vor einer Auslandsabhängigkeit. Ihr Ziel, wie auch jenes der Oligarchie, war die Errichtung einer eigenen Industrie - und die Kontrolle der Verkaufskanäle der hergestellten Produkte. Daher tolerierte sie das Treiben der britischen Missionare, solange sie nützliche Produkte (Seife, Papier) lieferten und dadurch die Auslandsabhängigkeit minderten. Insbesonders während des ersten Konflikts mit Frankreich (1828 - 1830) wäre es unklug gewesen, sich auch noch mit den Briten anzulegen.

Mit Laborde, der keiner Missionsgesellschaft angehörte und Kanonen herstellte, konnte die Königin ab 1835 auf die weiteren Dienste der Engländer verzichten. Zudem waren die Aufbauarbeiten der Missionare erledigt und die madagassischen Arbeiter ausgebildet. Laborde konnte sich bei seinen Industrieprojekten auf dieses lokale Know-how stützen. Einzig das britische Universalgenie James Cameron wollte die Königin seiner technischen Fähigkeiten wegen im Land behalten. Nachdem auch Cameron ausreiste, weil er keine Waffen produzieren wollte, war Laborde der einzige technisch versierte Baumeister, Erfinder und Konstrukteur des Königreiches.

Laborde wurde so eine Art Kulturheros für Zentralmadagaskar, ein unerschöpfliches Universaltalent und genialer Organisator. Das war der britische Missionar James Cameron allerdings auch. Doch Laborde hatte im Gegensatz zum britischen Theologen keine Skrupel. Er wusste sich in Gesellschaftskreisen zu bewegen, schmiss gern Feste, inszenierte auf dem städtischen Lac Anosy kleine Seeschlachten zur Erbauung von Königin und Höflingen. Laborde bereicherte sich durch seine vielfältigen Aktivitäten schamlos. Dadurch war er für die Madagassen fassbarer und menschlicher als die sittenstrengen Missionare.

Weil Jean Laborde 1857 in einen fehlgeschlagenen Komplott gegen die Königin verstrickt war, musste er nach 25 Jahren Aufenthalt eiligst das Land verlassen. Kaum war er weg, wurden die Anlagen in Mantasoa von den Zwangsarbeitern grösstenteils zerstört. Erst nach dem Tod von Ranavalona I kehrte Laborde 1863 wieder nach Madagaskar zurück. Diesmal als Konsul Frankreichs.

Der einst schiffbrüchige Laborde schaffte es innerhalb von 30 Jahren, vom technischen Experten mit Lokalvertrag zum einflussreichen Diplomaten im Dienste Frankreichs aufzusteigen. Er starb schwerreich, sodass um die Erbschaft - wenn auch Jahre danach und nur als Vorwand - ein Krieg zwischen Frankreich und Madagaskar ausbrach

(1883 -1885). In der Folge kam die Insel unter die Herrschaft Frankreichs. Die militärische Annexion von 1895 fügte Madagaskar 1896 in das französische Kolonialreich ein.

In Mantasoa wird heute das ehemalige Wohnhaus von Laborde, ein währschaftes Holzhaus, vom Direktor des Allgemeinen Gymnasiums bewohnt. Das monumentale Steingrab des Industriellen und Diplomaten Jean Laborde (1805 - 1878) steht unweit davon.

 

Franz Stadelmann

Diese Reportage erschien am 13. Februar 1996 in der Neuen Zürcher Zeitung.

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