Melaky: Die vergessene Provinz Madagaskars

Die Region Melaky liegt in der Mitte Westmadagaskars am Kanal von Moçambique und ist über keine gesicherte Landverbindung zu erreichen. Die potentiell reiche Gegend führt ein Eigenleben ohne Zukunftsperspektive.

Vier Tage braucht der motorlose Frachtensegler von Morondava bis Maintirano. Acht Matrosen, fünf Passagiere und 20 Tonnen Guano befinden sich an Bord. Bei günstigem Wind legt der Zweimaster diese 500 Kilometer in zwei Tagen zurück, doch die Gegenwinde haben die Reisezeit verdoppelt. Nur bei Flut kann der Segler in den kleinen Hafen einlaufen. Die Hafenanlagen bestehen aus einer Mauer von rund 30 Metern Länge und drei Eisenpfählen zum festmachen der Schiffe. An Land finden sich weder Ladekran noch Lagerschuppen, auch keine Bar oder Hotel.
Diese Anlage am Fluss Namda inmitten von Mangrovenwäldern ist bereits die dritte: die beiden ersten Anlegestellen sind versandet. Nur die flachgründigen Segelfrachter, in Madagaskar Boutry genannt, können den Hafen von Maintirano anlaufen. Die Stadt befindet sich zwei Kilometer nördlich hinter einem Sandwall.

Maintirano liegt in einer der abgelegensten Gegenden Madagaskars, nur 300 km Luftlinie westlich der Hauptstadt Antananarivo. Der Ort am Kanal von Moçambique ist das Zentrum der Region Melaky, die 1992 anlässlich einer Verwaltungsreform zur Provinz erhoben wurde. Die Reform verdreifachte die Anzahl der bislang sechs Provinzen. Die Papierpläne wurden jedoch noch nicht umgesetzt. Doch noch immer steht Maintirano im Schatten der alten Provinzhauptstadt Mahajunga.
Maintirano gehörte zu Kolonialzeiten zur Provinz Tulear, die den ganzen Süden und Westen Madagaskars abdeckte. Nach der Unabhängigkeit (1960) wurde Melaky zur Provinz Mahajunga geschlagen, obwohl die Binnenprovinz Antananarivo diese Region gern für sich gehabt hätte, um damit über einen Meereszugang zu verfügen.

Das Landstädtchen Maintirano erfüllt nur gerade die Basisbedürfnisse an städtischen Funktionen: Gymnasium, Spital, staatliche Verwaltung. Die 3000 Bewohner der Kleinstadt leben auf Subsistenzniveau vom Anbau von Reis und Maniok oder schlagen sich mit Kleinsthandel durch. Vor fast jedem Haus steht ein quadratmetergrosser, hölzerner Verkaufstisch mit ein paar Häufchen Erdnüssen, mit einzelnen Zigaretten oder einer Blechdose voll Holzkohle.
Rund 70 moslemische Indo-Pakistaner dominieren das eigentliche Geschäftsleben. Sie verkaufen Stoffe, Plastikartikel, Zement, Rum, Seife. Auch die einzige Bäckerei am Ort wird von einem Indo-Pakistaner betrieben. Die indischen Muslime beherrschen den Handel entlang der gesamten Westküste Madagaskars. Im Geleit der arabischen Händler monopolisierten sie bereits im letzten Jahrhundert den Detailhandel und den Verkauf von Stoff und Schmuck.
Immer wieder hat es Aufstände gegen die Inder gegeben. Die letzte Plünderung indischer Geschäfte fand 1987 statt. Viele der Inder sind staatenlos. Ihre meist aus Gujarat eingewanderten Vorfahren kümmerten sich nicht um entsprechende Papiere. Der madagassische Staat hingegen verweigert ihnen die Naturalisation, obwohl diese Leute im Land geboren und aufgewachsen sind.

Maintirano ist weitflächig und wirkt eher wie ein grosses Dorf. Jacaranda, schattige Mangobäume und Palmen verleihen dem heissen Ort den Charme einer Oase. Ein paar Strassen sind asphaltiert, nachts sind sie von vielleicht zwei Dutzend schwachen Laternen beleuchtet. Tagsüber fressen Ziegen und schwarze Schweine die Abfälle und Fäkalien. Die meisten Häuser sind aus Lehmbacksteinen erbaut und mit Wellblech bedeckt. Der kleine Hof um die Häuser wird von einem Steckenzaun umgrenzt. Die Mehrheit der Administrativgebäude stammt noch aus der Kolonialzeit, ihre Bausubstanz hat mangels Unterhalt erheblich gelitten.

Das Zentrum des Städtchens ist ein offener Markt, überschattet von einem weitarmigen Jacarandabaum. Ein paar Autos zirkulieren im Ort. Es gibt kein Taxi. Der Monatsverbrauch von Diesel beträgt 20m3 und von Benzin 10m3. Hingegen verbraucht die Bevölkerung 20m3 Petrol pro Monat für Lampen. Eine Tankstelle ist im Bau, bislang wird der Treibstoff aus Fässern in die Fahrzeuge gepumpt. Ein Dieselkraftwerk sorgt für Strom, doch die meisten Häuser haben keinen Anschluss. Die Familien können sich weder Stromrechnung noch Glühlampen leisten. Gekocht wird wie überall in Madagaskar mit Holzkohle.

Die Zeitungen der Hauptstadt, Midi und Express, liegen veraltet in der Apotheke auf. Die Post kann kein Telefongespräch zur Hauptstadt herstellen. Inder, Gendarmerie und der Agent der nationalen Luftfahrtgesellschaft Air Madagascar benutzen Funkgeräte.
Ebenso der Korrespondent des nationalen Radios und Fernsehens RTM. Er ist gleichzeitig Leiter des Lokalfernsehens, das mit einer VHS-Kamera zweimal pro Woche eine achzigminütige Sendung produziert. Das rudimentäre Studio befindet sich neben der Residenz des Präfekten, der auch die Geräte finanziert hat. Dies schränkt den journalistischen Spielraum des Lokalsenders erheblich ein. Auf dem Platz hinter dem Quartier der Gendarmerie steht ein öffentliches Fernsehgerät, vor das sich die Zuschauer abends in den Sand setzen. Nur die Inder und ein paar begüterte Madagassen haben ein eigenes Gerät.

Während fünf Monaten ist der Ort infolge der Regenzeit abgeschnitten. Einziger regelmässiger Aussenkontakt sind die elf wöchentlichen Flüge der Kleinflugzeuge der Air Madagascar. Zwei Transporteure befahren die Route zwischen Maintirano und der Hauptstadt: vier Tage Fahrt für 400 Kilometer über die Route Tsiroanomandidy und Morafenobe. Unterwegs zweigen ein paar Karrenwege ab, die in die wenigen Dörfer führen.
Während der Regenzeit von November bis April stellen die Transporteure den Betrieb ein. Dann verkehren auch die traditionellen Frachtensegler nicht. Diese den arabischen Dhows ähnlichen Holzschiffe decken den grössten Teil des Transportvolumens der Region ab. Die Fracht per Lastwagen nach Antananarivo kostet 1000 FMG (30 Rappen) pro Kilo, per Lastensegler sind es 100 FMG bis nach Mahajunga.

Die savannenartige Region ist reich an Landwirtschaftsprodukten: Vieh, Erdnüsse, Trockenfisch und das Fibermaterial der Raphiapalme. Auch Palisander und Kokosnüsse finden sich in der Gegend. Die Haine von Veromanga mit ihren süssfruchtigen Orangen waren zu Kolonialzeiten in ganz Madagaskar bekannt.
Kaperbsen wurden in den 1960er Jahren in grossen Mengen nach England exportiert und zur Biskuitherstellung verwendet. Seit Jahren ist dieser Absatzmarkt verloren, weil die Qualitätsanforderungen nicht erfüllt werden. Die noch vorhandenen Produkte verlassen die Region unverarbeitet und zu Spottpreisen. Ein drei Meter langer und eine Handspanne dicker Palisanderbalken wird in Maintirano für 5000 FMG verkauft, soviel kostet ein Paket Zigaretten. Die mangelnden Verkehrsverbindungen lassen einen termingerechten Abtransport nicht zu. Deshalb, so der stellvertretende Bürgermeister Gaston Sivah, müssten Verarbeitungsbetriebe her. Doch Maintirano gilt unter den wenigen Investoren nicht als Gunstzone.

Trotz kilometerlangen Sandstränden kommen keine Touristen. Eine Infrastruktur ist nur rudimentär vorhanden, obwohl die Region touristisch interessant wäre. Die zwei Hotels mit ihrem bescheidenen Komfort werden zumeist von Beamten auf Dienstreise benutzt. Es gibt kein reguläres Restaurant. Die Besucher müssen ihre Essenswünsche ein paar Stunden vorher bei einer der Buvette anmelden - oder sie verpflegen sich auf dem Markt mit Broschetten und gebratenen Reisfladen.
Mit den seltsamen Felsenformationen der Tsingy findet sich nur 80 Kilometer südöstlich von Maintirano eine Touristenattraktion. Sie ist aber nur nach vier Stunden schwieriger Fahrt mit einem Allradfahrzeug zu erreichen. Diese seit 1990 in der Liste des Kulturschutzes der UNESCO stehenden Karstspitzen gehören zu den aussergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten Madagaskars: eine graugebleichte, vegetationslose Mondlandschaft mit messerspitzen Oberflächen. Maintirano hat von diesem Naturwunder keinen Gewinn.

Die Region Melaky ist potentiell reich an Bodenschätzen. Im Kanal von Moçambique werden immer wieder Ölvorkommen vermutet und dieser Wochen wurde ein Vertrag zwischen der amerikanischen Tritom Energy Ltd und der Staatsunternehmen Omnis unterzeichnet, um südlich von Maintirano nach Öl zu bohren. Ein gleiches Abkommen wurde auch mit der kanadischen Golfstream Resources eingegangen.

Halbedelsteine, Kristalle und Merkur finden sich in der Umgebung, werden aber nur sporadisch von der Lokalbevölkerung abgebaut. Der Handel ist in den Händen des lokalen Deputé. Und der sitzt am Rand des Menschenrings, wenn sich die jungen Leute der lokalen Sportart widmen: Faustkampf.
Die zahlreichen Zuschauer und Zuschauerinnen formen einen Ring von fünfzig Metern Durchmesser. Vor ihnen paradieren die kampfesfreudigen Kerle mit keck erhobener Faust. Der Mittelfinger ragt provokativ heraus, um dadurch Kampfpartner herauszufordern. Wer die Herausforderung annimmt, begibt sich in die sandrote Arena. Dann dreschen die beiden Kontrahenten aufeinander ein, ohne Boxhandschuhe, ohne Gesichtsschutz. Je brutaler jemand zuschlägt, um so mehr johlt das Volk.
Der Kampf dauert meist nur wenige Minuten. Gendarmen greifen ein, sobald die Prügelei zu heftig wird. Manchmal tritt auch eine besorgte Mutter dazwischen, ausgelacht von der Menschenmenge. Die Kämpfer sind meist um die zwanzig Jahre alt. Aber schon Knirpse von fünf Jahren hacken aufeinander ein. Der Sieger erhält vom Deputé 1000 madagassische Franken (30 Rappen). Diese Kampfart wird Morengy genannt, aber auch Lalao (Spiel). Neuerdings wagen sich auch Mädchen in den Ring. Ihre zögerliche Art und das viele Lachen zeigen, dass diese Art von Emanzipation noch neu ist in dieser Männerwelt.

Der Ort Maintirano befand sich vor hundertfünfzig Jahren 15 Kilometer weiter südlich an einer Bucht, die heute Maintiranomaty (totes Maintirano) genannt wird. Von den früheren Bauten sind ausser ein paar Gräbern keine Spuren mehr übrig. Doch als der Forschungsreisende Grandidier diesen Ort vor 150 Jahren aufsuchte, traf er auf einen florierenden Handelsposten für Sklaven.
Einerseits wurden Sklaven aus Moçambique eingeführt, andererseits Sklaven aus dem Hochland exportiert. Bezahlt wurde mit Gewehren und Pulver. Dies liess das Volk der Region, die Sakalava, derart erstarken, dass sie zur ernsthaften Konkurrenz der dominierenden Merina aus der heutigen Hauptstadt aufstiegen.
Noch in den ersten 1880er Jahren wurden jährlich um die 8000 Sklaven von Afrika nach Madagaskar gebracht, mindestens 5000 davon wurden durch Maintirano geschleust. Erst vor hundert Jahren setzten die Franzosen mit ihrem Einmarsch in Madagaskar dem Sklavenhandel ein Ende.

Die katholische Mission mit kanadischen Schwestern betreibt in Maintirano eine Krankenstation. Das staatliche Spital ist Anlaufstelle nur in letzter Instanz. Dr. Lala, ein junger Chirurg, näht die fast abgeschnittene Fingerkuppe eines zweijährigen Jungen ohne Narkose wieder an. Dann stellt er ein Rezept aus für Spritze, Starrkrampfinjektion und Penizillin, die in der privaten Apotheke gekauft und ins Spital gebracht werden müssen. Dafür sind 50000 madagassische Franken zu bezahlen (14 sFr), was einem zweimonatigen Lohn eines Boutry-Matrosen oder zehn Flaschen Bier entspricht.
Das Spital erhält Hilfe von der deutschen Gesellschaft zur Technischen Zusammenarbeit (GTZ), die in der Provinz im Gesundheitsbereich tätig ist. Trotzdem fehlt es an Medikamenten, an Verbandsmaterial, an Operationsbesteck. Die Betten haben weder Matratzen noch Mosquitonetze. Die Kranken bringen Bastmatten mit und legen sie auf das Drahtgitter des Bettes. Das Spital gibt kein Essen ab, daher muss jeder Kranke von Verwandten begleitet werden.

Das älteste heute noch stehende Haus datiert aus dem Jahr 1906. Der indische Besitzer war früher Agent einer Dampfschiffahrtslinie und erinnert sich gut an die fünfziger Jahre, als die Eisenschiffe regelmässig den inzwischen verfallenen Pier der Stadt anfuhren, um zehntausende von Tonnen Kaperbsen zu laden.

Maintirano war früher ein Zentrum der Colons, die allerdings nach der Unabhängigkeit und spätestens nach 1972 abzogen, als Madagaskar unter Präsident Ratsiraka auf Linkskurs ging. Die Orangenplantagen verwilderten und die verstaatlichten Betriebe zerfielen. Nur ein Grieche blieb. Sein Sohn ist heute eine dominante Person der Stadt mit erheblichem Besitz an Land und Rinderherden.

Die jungen Leute finden keine Arbeit ausserhalb der elterlichen Landwirtschaft. Dies wird vor allem für die Abgänger des lokalen Gymnasiums zum Problem, denn sie sehen in der harten Landwirtschaft keine Lebensaufgabe. Viele begeben sich nach Mahajunga oder in die Hauptstadt auf der Suche nach Geld und Glück. Dabei ist die Region mit nur 4,5 Pers/km2 unterbevölkert. Erhebliche Landreserven sind vorhanden und locken ihrerseits Agrarproletariat aus anderen Gegenden Madagaskars an.

In den 1930er Jahren schickten die Franzosen den aufsässigen Kolonialkritiker Dr. Ravoahangy nach Maintirano in die Verbannung. Der Ort hat dieses Image von Verlassenheit und Abgeschiedenheit nie überwinden können. Eine Zukunftsperspektive zeichnet sich nicht ab, auch nicht unter dem zu Beginn des Jahres wiedergewählten Ex-Diktators Ratsiraka. Albert Zafy, der glücklose und unfähige Präsident der Zwischenjahre, hatte in dieser Region nicht viele Anhänger. Noch heute nutzen die Leute die Rückseiten der grünen Stimmzettel seiner Partei UNDD, um darauf Rechnungen zu schreiben.

 

Franz Stadelmann

Diese Reportage erschien am 6. Januar 1998 in der Neuen Zürcher Zeitung.

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