Das
kleine rosa Kleid
... ist weniger schön, es ist flüchtig zusammengenäht und aus
billigem Stoff. Es kam mit, weil Brigitte, die Schneiderin, so nett
war. Sie lebt in Tolongoina, einem Dorf im Regenwald an der
Bahnstrecke nach Manakara. Schon die Reise dorthin war
unvergesslich.
Abfahrt
in Fianarantsoa früh um sieben. Laut Fahrplan. Doch noch lange danach
reichen Reisende Pakete, Bündel, ein paar Hühner durch die Fenster.
Eine Mutter schiebt ihren Sohn hinterher. Ein paar Jungen lungern am
Bahnsteig rum. "Sehen Züge bei euch so aus wie hier?",
fragt einer in holprigem Schulfranzösisch. Ich muss grinsen.
"Manchmal", sage ich höflich. Und denke: Im Bilderbuch,
vielleicht, ja, aber nicht, wenn sie die wichtigen Fernverbindungen
bedienen. Die gelb-grünen Schmalspurwaggons haben früher mal in den
Schweizer Bergen verkehrt. Vorn ist erste Klasse, gepolsterte Sitze,
eher ruhige Atmosphäre, hinten zweite: Barfußklasse, rappelvoll. Die
Lok schnauft. Die Gleise sind krumm und überwuchert. Ein Mann löst
mit einer Eisenstange die Bremsen. Das alles sieht aus, als ob die
Zeit stillsteht. Was sie aber nicht tut. Mit 37 Minuten Verspätung
schnarren die Lautsprecher, der Lokführer trötet, der
Bahnhofsvorsteher bläst in die Trillerpfeife, und dann setzen die
Waggons sich in Bewegung. Die Jungen rennen lange nebenher. Hinter dem
dritten Bahnhof fängt der Regenwald an. Dicht kriecht das Grün an
den Bahndamm. Rechts steigen steil die Berge empor, links öffnet sich
ein fantastisches Panorama mit bewaldeten Hängen, Felsen, blauem
Himmel. Hinter einer Kurve drosselt der Zugführer das Tempo. Die
Einheimischen sagen: "Achtung jetzt, der Mandriampotsy" -
ein Wasserfall stürzt donnernd ins Tal. Einen Moment später
verschwindet der Zug in einem Tunnel. Es wird schwarz, nur eine Birne
flackert schwach. Und dann wird es wieder knallhell. Grün.
Bananenplantagen!
Wann
wir Tolongoina, unser Tagesziel, erreichten? Keine Ahnung. Ich vergaß
die Uhr, Zeit spielte keine Rolle mehr, nur das Jetzt zählte:
aussteigen, über den Bahnhof schlendern, Leute gucken, die Bananenträger
mit ihren eisenstarken Muskeln; die Frau, die ihren Mann beschimpft,
sie zetert - und alle ringsum applaudieren. Brigittes Schneiderei
liegt gleich neben dem Bahnhof, die Nähmaschine steht am Fenster. Und
so sieht sie, wie der Zug ankommt, wie wir spazieren gehen, schwitzen.
Es ist selten, dass Europäer hier unterwegs sind. "Hier ist es kühl",
sagt sie, "hier könnt ihr euch erholen." An einem Balken hängt
ein Plakat: "Marketing" - es zeigt den Kreislauf des Geldes,
vom Verbraucher zum Händler zum Produzenten, der wiederum Material
einkaufen geht. Ein Entwicklungshelfer hat es da aufgehängt. "So
mache ich es auch", sagt Brigitte. "Alle zwei Wochen fahre
ich mit dem Zug in die Stadt und kaufe Stoff. Ich liebe diese Reisen.
Bahnfahren ist für mich überhaupt das Schönste, was es gibt im
Leben."
Für
uns ist es billig. Von Fianarantsoa bis Tolongoina - 62,38 Kilometer,
Fahrtzeit etwa drei Stunden - haben wir erster Klasse etwa 1,70 Euro
bezahlt. Für Brigitte ist es dagegen teuer. Sie würde gern ein Geschäft
mit mir machen, um die nächste Bahnfahrkarte bezahlen zu können. Sie
zeigt die vielen bunten Kleider, die sie näht. "Probier doch mal
eins an", sagt sie. Keins passt mir. Aber ein kleines könnte ich
als Andenken kaufen. Der Preis: umgerechnet rund 70 Cent. Es ist rosa
und hat Rüschen.
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