Von Madagaskars rund 50'000 Kilometer umfassendem Strassennetz ist
gerade einmal ein Zehntel asphaltiert. Wer auf dieser Insel im
Indischen Ozean grosse Strecken bewältigen will, braucht deshalb viel
Zeit und sollte sich zudem auf einige Überraschungen
einstellen.
Thomas Veser
Der üppige Fassadenschmuck an den Villen aus der Kolonialzeit ist
längst zerfallen, dennoch lässt sich erahnen, dass das Städtchen
Antsirabe («Wo viel Salz ist») einst Madagaskars mondänster Kurort
war. Norwegische Missionare haben das Thermalbad südlich der
Hauptstadt Antananarivo 1872 gegründet, weil dort ausgezeichnete
Heilquellen sprudeln und angenehme Temperaturen herrschen. Und noch
heutzutage säumen lilafarbene Jakarandabäume die grosszügig
bemessenen Avenuen. In der Nähe des kleinen Sees, in dem die heissen
Quellen entspringen, erhebt sich das Hotel des Thermes, das seine
Zukunft allerdings schon lange hinter sich hat. – Zweieinhalb
Stunden nimmt die Fahrt von der Gare Routière der Hauptstadt mit
einem alten Peugeot 504 in Anspruch. Rund 170 Kilometer hat das
Taxi-Brousse, das Sammeltaxi, ohne Panne und mit zwei Zwischenstopps
auf der asphaltierten Strasse in Richtung Süden zurückgelegt;
anscheinend funktioniert dieses populäre Beförderungssystem auf der
«Grande Ile» ordentlich, meint der Reisende, sich in Sicherheit
wiegend.
Abends wird es im «Vichy Madagaskars» richtig kühl. Überall riecht
es nach frisch gebrautem Bier, befindet sich doch dort die grösste
Brauerei des Landes. Beim Kurbetrieb dagegen ist Hopfen und Malz
verloren. Die nicht mehr instand gehaltenen Thermalbecken sind so
verschmutzt, dass man sich besser fernhält. Nach einer Übernachtung
im gespenstisch leeren Hotel des Thermes steht der Beschluss fest: In
den Westen soll es gehen, nach Morondava, berühmt für seine endlosen
Sandstrände, und dem Kanal von Moçambique entlang. Und zwar per
Taxi-B.
«Immer mit der Ruhe»
Die Gare Routière von Antsirabe ist schnell gefunden, und auch an
diesem Tag scheint der Reisende Glück zu haben. «Monsieur, beeilen
Sie sich, in einer Stunde geht es los», ruft einer der Fahrer und führt
den «Vazaha», wie die Madagassen die Ausländer nennen, zu einem
Kiosk, wo er umgerechnet weniger als 20 Franken für die einfache
Strecke hinblättert. Mittlerweile verstaut sein Gehilfe nach einem
undurchschaubaren Prinzip Reisegepäck auf dem Dach, vor allem Koffer
sowie Taschen mit Reis, Obst, Gemüse und Hühnern. Eine Stunde
verstreicht, und zur masslosen Freude des «Vazaha», der sich endlich
aus der Umzingelung durch Händler und Kinder befreien kann, wirft der
Fahrer den Motor an, obgleich im Bus noch einige Plätze frei
sind.
Eine Zeitlang kurvt er durch die Stadt, nimmt weitere Gepäckstücke
in Empfang und bleibt stehen, um kurz mit Bekannten zu plaudern.
Schliesslich lenkt er sein Fahrzeug wieder zum Taxi-Sammelpunkt zurück,
wo sich inzwischen weitere Reisende eingefunden haben. Abfahrtszeiten,
das muss der «Vazaha» schliesslich einsehen, sind in Madagaskar
keine verbindlichen Richtwerte. Abgefahren wird erst, wenn der Bus
voll ist. Dass auch Kilometerangaben wenig Bedeutung haben und die
Reisezeit von Strassenzustand und Pannenhäufigkeit abhängt, wird er
später erfahren.
Nach wenigen Kilometern ist die Fahrt erneut zu Ende, diesmal vor
einem Haus, neben dem mehrere Autowracks liegen. «Monsieur, ich
brauche einen neuen Anlasser», meint der Fahrer entschuldigend,
schwingt sich aus dem Bus und verhandelt mit dem Schrotthändler. Als
sie sich endlich einig sind, wird geflickt. Besorgt blickt der «Vazaha»
auf seine Uhr. Über 500 Kilometer sind bis Morondava zu bewältigen.
Auf die Frage, wie lange die Fahrt dauern werde, antwortet der junge
Mann mit einem Lächeln, eine konkrete Antwort bleibt er schuldig und
meint dann «Mora mora, Monsieur» – immer mit der Ruhe.
Mondlandschaft
Irgendwann – der «Vazaha» hat sich den Blick auf die Uhr abgewöhnt
– geht es weiter, aus dem Autoradio dröhnt Malgasy-Musik in voller
Lautstärke, an Schlaf ist nicht zu denken. Der Bus begibt sich tatsächlich
auf die asphaltierte Route Nationale 34 und braust in Richtung
Miandrivazo («Ich erwarte eine Frau»), fährt durch Betafo («Wo es
viele Dächer gibt») und legt in Mandoto («Schmutziger Ort») eine
Pause ein. Bevor die Passagiere aussteigen können, um an einer Garküche
einen Imbiss einzunehmen, umringt eine Traube von Händlerinnen den
Wagen und preist lautstark die Qualität von Äpfeln, Birnen und
Pflaumen an.
Allmählich geht die aus einem Mosaik aus Gemüsegärten und
Reisfeldern bestehende, sanfte Gegend in eine trockene, von
Erosionsfurchen und Kratern durchzogene Landschaft über. Zwar ist die
Sandpiste durch diese Mondlandschaft vor einiger Zeit stabilisiert
worden, starke Regengüsse und Wirbelstürme haben jedoch an einigen
Abschnitten nicht mehr viel davon übrig gelassen. Und bald sinkt auch
die Durchschnittsgeschwindigkeit auf 10 Kilometer pro Stunde, weil der
Fahrer seinen Minibus vorsichtig um riesige Furchen in der Piste manövrieren
muss. Inzwischen ist es stockdunkel. Links und rechts der Piste, über
die der Bus mehr schaukelt als fährt, verlaufen an den Berghängen über
Hunderte von Metern Buschfeuer, die von den Bauern gelegt werden, um
mit der Asche den Boden fruchtbar zu machen.
Plötzlich ist die Fahrt durch diese Einöde zu Ende, die
madagassischen Passagiere verlassen schweigend den Bus, worauf der «Vazaha»
die Welt nicht mehr versteht. «Monsieur, die Strasse ist so schlecht,
dass Sie besser ein Stück zu Fuss gehen, das ist bequemer», meint
der Fahrer und fügt ein «Excusez-moi» hinzu. Es ist mittlerweile
lange nach Mitternacht, aber Zeit spielt jetzt keine Rolle mehr.
Selbst auf den folgenden asphaltierten Abschnitten sind bestenfalls 45
Kilometer pro Stunde möglich. Mehr liegt nicht drin. Ständig muss
der Fahrer vor Löchern im Belag auf der Hut sein.
Ende gut – alles gut
Gegen fünf Uhr morgens fällt das Scheinwerferlicht auf die Ortstafel
mit dem erlösenden Wort Morondava («Wo die Küste lang ist»). Nach
16 Stunden Reisezeit ist der Fahrer nur noch ein Schatten seiner
selbst. Ein privater Taxifahrer befördert den geschlauchten «Vazaha»
in das Strandhotel Chez Maggie, wo ihm der Nachtwächter den Schlüssel
für das reservierte Zimmer übergibt – und sich dabei den leicht
vorwurfsvoll formulierten Hinweis «Monsieur, mit dem Flugzeug dauert
die Reise nur knapp zwei Stunden», nicht verkneifen kann.
erschienen in NZZ, 24. Juli 2008, Thomas Veser
Der Artikel ist auch zu lesen unter: http://www.nzz.ch/magazin/reisen/wenn_laufen_bequemer_ist_als_fahren_1.790758.html
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