Religion
Heutige
Madagassen sind mit zwei Welten mit ganz unterschiedlichen
Kulturen konfrontiert. Einerseits ist es die alte Zeit, die
madagassische Zeit mit madagassischen Sitten und Gebräuchen.
Andererseits sind die Gebräuche der 'vazaha' ins Land
gekommen, die 'fomba vazaha', die Art der Fremden, Sachen zu tun
und in einer bestimmten Art zu denken. Missionare, Kolonialisten
und die französische Verwaltung haben das traditionelle
Denkschema umgekrempelt. Ein Teil der madagassischen Art ging
verloren, ein anderer Teil konnte sich halten und vieles wurde
in Symbiose zwischen alt und neu beibehalten.
Doch
etliche Madagassen sind in ihrer Seele zerrissen: die alte Zeit
wird als Idealform des Lebens betrachtet, während die
Jetztzeit zuviele Abwege von dieser Idealvorstellung mit sich
bringt. In ihrer Not flüchten etliche in rituelle Zeremonien,
auch dann, wenn diese für die Familie ökonomisch ruinös
sind. Andere suchen ihr Heil in der Religion - oder finden
Zuflucht im Alkohol.
Die
Änderungen in dieser schnelllebigen Zeit haben Auswirkungen
bis nach Madagaskar und - wenn auch gefiltert und reduziert,
aber nicht minder schlimm - bis in entlegene Dörfer. Was früher
Halt gab, bröckelt zusehends ab: Familienstrukturen,
politische und soziale Organisation, verstärkt durch
Verarmung und Verelendung weiter Kreise und dies auch auf dem
Land. Und zudem macht sich ein Generationenkonflikt auch in
bislang intakten Strukturen bemerkbar.
Die
Kenntnis der madagassischen Gebräuche (mahay fomba)
gegenüber den Kenntnissen der Europäer bringt
zwangsläufig Zusammenstösse zwischen alt und jung,
zwischen Tradition und Moderne, besonders dort, wo die Jungen
Zugang zum Schulbesuch haben.
Obwohl
'das Leben süss ist', wie ein Sprichwort sagt, durchzieht eine
permanente Angst das Leben. Die Angst vor Verhexungen (mamonsavy)
in ruralen Gebieten ist weit verbreitet, wie auch die Angst vor
den Toten und ihren Geistern, vor Vergiften und Verwünschungen.
Dagegen
gab es früher Mittel, doch heute haben diese traditionellen
Methoden an Kraft verloren.
Und
gegenüber dieser Unsicherheit und Angst spielt sich das für
die Madagassen als sorglos und gesichert interpretierte Leben
der Europäer ab.
In
ruralen Gegenden haben die vazaha den Ruf, Herzen zu stehlen (mpakafo),
insbesonders nachts und jene von Kindern, um sie aufzuessen und
dadurch ihre so unverständliche Macht zu erhalten. Oder
aber Blutdiebe (mpakara) zu sein. Dieser womöglich noch von
der Sklavenzeit herstammende Glaube macht den Besuch von Spitälern
für die rurale Bevölkerung oft zum Trauma, daher will der
Kranke von möglichst vielen Verwandten (havana) im Spital
begleitet sein, um sich von den feindlichen Kräften der
nicht-havana zu schützen.
|