PRIORI

PRIORI, das Reisebüro für und in Madagaskar

.
Madagaskar, das PRIORI-Buch

Franz Stadelmann

.

Madagaskar: Symbiose zwischen Gestern und Heute

.

zurück zum Inhaltsverzeichnis

.

Probleme der Zeit

Die drückenden Probleme Madagaskars lassen sich vielleicht global auf drei Punkte bringen: Armut, Kommunikationsmangel und Erosion. Sie sind miteinander in einer unaufhörlich abwärtsdrehenden Spirale der Degradierung verbunden. Dazu kommt ein massives politisches Problem: Madagaskar hat noch nicht zu einem stabilen, zukunftsgerichteten politischen Kurs gefunden, der alle Bevölkerungsteile demokratisch teilhaben lässt.

Die Kaufkraft des normalen madagassischen Haushalts hat sich seit den 1970er Jahren konstant vermindert. Zu Beginn der 1990er Jahre lag sie 25% unter jener von 1980. Die frühere Mittelschicht rutschte an den Rand des Existenzminimums ab, grosse Bevölkerungsteile gerieten deutlich darunter. Dies zeigt sich nicht nur in den Städten und in lohnabhängigen Familien, sondern auch im bäuerlichen Umfeld. Gleichzeitig wurden jedoch die sechs Produkte der Grundkonsumation (Reis, Maniok, Mais, Rindfleisch, Öl und Brot) beispielsweise von 1984 bis 1988 pro Jahr um 14% teurer, ebenso wie die Güter des täglichen Gebrauchs. Importierte Artikel - und seien es nur Batterien für ein Radio - sind für eine Vielzahl unerschwinglich, der Kauf eines Radios sowieso. Mindestens eine Million Madagassen (von über 16 Mio.) lebt in einer Situation der Armut. Der PNP beträgt um die 200 US-$ pro Person und Jahr. Heute stehen pro Person und Tag im Durchschnitt bloss 2300 bis 2500 Kalorien zur Verfügung, wesentlich weniger als 1960 und viel weniger als in Europa mit 3500 Kalorien. Im Landesdurchschnitt leiden 30% der Bevölkerung an akuter Unterernährung und 55% weitere Prozent halten sich gerade knapp darüber. Die Mitglieder von 1,65 Mio. der insgesamt 2 Mio. madagassischen Haushalte werden nicht jeden Tag satt.

Von Mai bis August - unmittelbar nach der Erntezeit - sind die Landwirtschaftsprodukte zwar billiger. Doch wenige Monate danach verteuern sie sich unweigerlich, wobei der Reispreis als zuverlässiges Barometer gilt. Jedes Jahr leiden sowohl die Stadtbevölkerung als auch die Bauern unter der 'période de soudure', während der sie nicht genügend zu essen haben. Daran sind die relativ mageren Ernteerträge schuld, aber auch die ungelösten Probleme des Landbesitzes und der Mangel an Landwirtschaftskrediten. Die Probleme der ruralen Bevölkerung drehen sich hauptsächlich um drei Pole: Zugang zu Wasser, Zugang zu Boden, Zugang zu Krediten. Weitere Gründe für regionale Defizite an Nahrungsmitteln sind aber ebenso sehr die Spekulanten wie auch die schlechten Kommunikationswege, was etliche Bauern in eine Rückkehr zur Subsistenz bewog. Ein wichtiges Element ist aber auch die - zum Teil kulturell bedingte - Fixierung der Madagassen auf Reis, der auch in Regionen angebaut wird, die sich dafür nicht eignen. Diese 'Reis-Obszession' betrifft auch die ernährungstechnisch ungünstigen Kochgewohnheiten (Schälen und langes Weichkochen des Reises).

Mit der sozialen Degradation geht eine ökologische einher. Mit der an der Ostküste üblichen Brandrodung (tavy) wird die oberflächennahe Bodenschicht einer Ausschwemmung freigegeben, womit die Nährstoffe abgetragen werden und der Boden schnell verarmt. In der Folge gedeiht bloss noch eine artenarme Vegetation. Das gleiche Phänomen ereignet sich durch die jährlichen Buschbrände auf dem Hochland und in den trockeneren Gebieten des Westens. Die harten Savannengräser machen zwar kurzfristig jungen Gräsern Platz und ermöglichen eine saftige Viehweide, doch nach Jahren setzen sich mindere Gräser durch und führen zu einer Versteppung der Landschaft. Jedes Jahr wird 25 bis 35% der Landesfläche von Flächenbränden heimgesucht. Und dies trotz Regierungsverboten, Aufrufen der Politiker und Slogans auf Briefmarken ('Wer die tanety abbrennt, verbrennt die Nation'). Doch diese Feuer gelten auch als Kundgebung eines politischen Unwillens der ländlichen Bevölkerung und nehmen daher nebst der ökologischen auch eine klare politische Dimension an: eine Art madagassischer Terrorismus der Bauern. Die Vegetationszerstörung betrifft aber auch die wenigen Dichtwaldgebiete durch unkontrollierte Abholzung und beeinträchtigt dadurch das 'Naturparadies Madagaskar' erheblich.

Aber auch eine wirtschaftliche Erosion trägt zur Verarmung Madagaskars bei. Das durch die Industrieentwicklung à outrance Ende der 1970er Jahre in eine dramatische Schuldenspirale geratene Land hat sich etliche 'weisse Elefanten' geleistet und unterhält zahlreiche unrentable Staatsbetriebe, die nun im Rahmen der Liberalisierung abgestossen werden sollen. Gewinnbringende Betriebe wurden durch staatliche Auflagen oder Verstaatlichungen weitgehend in die Defensive gedrängt. Zudem macht der konstante Mangel an Devisen eine Einfuhr von Rohmaterial und Ersatzteilen schwierig. Das wirtschaftliche Wachstum weist zwar seit wenigen Jahren wieder eine aufsteigende Tendenz, bleibt aber stark schwankend, für 1989 wurde es auf 4% geschätzt gegenüber 0,3% für 1980 - 1988.

Weder der Industrie noch dem tertiären Bereich gelingt es, die 180’000 jungen Leute, die jedes Jahr neu auf dem Arbeitsmarkt erscheinen, zu absorbieren. Auch die Landwirtschaft kann die Arbeitslosen nicht beschäftigen: die Armut flieht in die Stadt. Die Leute schlagen sich mit irgendwelchen Jobs durch oder hängen unterbeschäftigt herum, in der Stadt und auf dem Land. Frustration und Kriminalität machen sich breit.

Das weit verschuldete Land musste sich dem Diktat des IMF und der Weltbank unterwerfen, wodurch die sozialen Kosten der eingeleiteten Strukturanpassung ausserordentlich hoch wurden und insbesonders die städtischen Kleinverdiener strafte. Andererseits haben mehrere Länder in den letzten Jahren erhebliche Schuldenerlasse und -streichungen vorgenommen.

Die Strukturanpassung unterwarf die Bevölkerung einem harten Regime: die Lebenshaltungskosten stiegen drastisch an, die Löhne wurden praktisch eingefroren, die Einstellung von Beamten gestoppt und die Subventionen in grossen Bereichen unterbunden. Besonders die Funktionäre mussten sich mit einer schmerzhaften Erosion ihrer Kaufkraft abfinden, daher entwickelten sich auch die Probleme von Absentismus und Parallelaktivitäten, Ineffizienz und Mangel an Motivation. Und vor allem eine schleichende Korruption, die sich inzwischen fast institutionalisiert hat.

Die grosse Herausforderung der nahen Zukunft ist jedoch die Frage, ob das Land überhaupt fähig sein wird, sich selber zu ernähren. Im Jahr 2000 benötigten 15 Millionen Madagassen 2,2 Mio. Tonnen Reis, also hätten 3,4 Mio. Tonnen Paddy geerntet werden müssen. Was aber nicht gelang. Trotz des grossen Potentials an fruchtbarem Ackerland hält die Reisproduktion kaum mit der Bevölkerungsentwicklung (Bevölkerungswachstum 3,2%) Schritt. Die kommerziellen Importe von Nahrungsmitteln nahmen zwar zu Beginn der 1990er Jahre ab, wurden aber durch massive Hilfssendungen für die Dürrekatastrophe im Süden aufgeglichen - und durch den Hunger im Bauch von tausenden von Menschen. 1991 wurde geschätzt, dass 40% der Madagassen nicht genügend zu Essen haben.

Madagaskar ist mit über 2 Milliarden US-$ verschuldet und 1989 mussten 52% der Exporteinnahmen für den Schuldendienst aufgewandt werden. Zwar brachten die Schuldenerlasse (1989: 116 Mio. US-$) von Kanada, Deutschland und Frankreich eine deutliche Erleichterung. Frankreich beispielsweise erliess 1989 einen Drittel der madagassischen Schulden, was damals 13% der gesamten Aussenschuld Madagaskars ausmachte. Anlässlich des Besuchs von Präsident Mitterrand von 1990 wurde die gesamte öffentliche Schuld Madagaskars gegenüber Frankreichs erlassen: 4 Milliarden FF, was 25% der gesamten Aussenschuld Madagaskars (rund 2,5 Milliarden Dollar) entsprach.

Trotzdem bleibt der Schuldenberg drückend bestehen. Er sank nie unter die 50%-Quote der Exporterlöse. Initiativen einer kreativen Entschuldung (Volumen: 10 Mio. sFr.) wurden von Schweizer Seite angestrebt, kamen aber mit den Ereignissen von 1991/92 ins Stocken. Die französische Organisation ACIF (Action internationale contre la faim) kaufte Schulden auf und investierte sie in Entwicklungsprojekte. Einen ähnlichen Weg gingen ab 1989 USAID und WWF mit ihrem 'Dept for Nature Swap'. USAID stellte dem WWF 1 Mio. US-$ zur Verfügung, um 2,1 Mio. US-$ Staatsverschuldung zu kaufen und das Geld zu brauchen, um 400 Parkwächter auszubilden und Umweltprojekte zu finanzieren.

Ein entscheidender Punkt für die Zukunft des Landes ist die Kommunikation. Mangelnde Strassen und mangelnder Handelsaustausch zwischen einzelnen Regionen führen zu einer Verrottung von Produkten neben einer Hungerzone, führen zur Ausbeutung von Bauern und somit zu deren Demotivierung. Ihre Strategie ist der Rückzug in die Subsistenz - während das Land hungert. Faire Preise und sichere Verteilsysteme könnten hier stimulierend wirken und teure Importe - oder Hilfsaktionen - vermeiden. 85% der Bevölkerung sieht sich als unmittelbares Opfer der geringsten Preisschwankung oder des minimsten Nachschubengpasses.

Madagaskar kennt - im Unterschied zu den meisten afrikanischen Staaten - keine Grenzkonflikte. Ausser dem - allerdings auf kleiner Flamme gehaltene - Disput um die Inseln Eparses (Iles glorieuses, Juan de Nova, Europa, Bassas da India), die nach der Entstehung der Republik Madagaskar (1960) unter französischer Kontrolle blieben. Madagaskar erhebt Anspruch auf diese im Kanal von Mozambique gelegenen Inseln, ebenso wie auf die unter französischer Kontrolle befindenden Insel Tromelin, die jedoch auch von Mauritius beansprucht wird. So können strittige Grenzfragen nicht in die politische Diskussion eingebracht werden, wie dies afrikanische Länder oft tun.

Die Ereignisse um den Abgang des langjährigen Dikators Ratsiraka – 1991 und erneut 2002 – liessen einen potentiellen innermadagassischen Konflikt aufleben: Küste gegen Hochland. Es gibt in Madagaskar an sich keine Konflikte zwischen den verschienenen Völkern / Ethnien, doch die Politik versuchte, jahrhundertealte Vorurteile in ihre kurzfristige Strategien einzubauen. Dies gelang: Madagaskar hat in den letzten zehn Jahren einen ehnischen Bruch erlitten, der – sofern er weiterhin bearbeitet wird – sogar zu einem Bürgerkrieg ausarten könnte.

Gegen aussen hin ist die madagassische Denkweise oft von einer Insularität geprägt, die alles Aussenstehende in erster Linie als bedrohend empfindet. Mehrere Phasen der fast vollständigen Abschottung gegen aussen machen deutlich, dass auch der Staat und seine Vertreter so reagieren wie die Bauern: findet er sich nicht mehr im Konsens mit der Aussenmacht oder fühlt er sich unter Druck, zieht er sich in die Subsistenz zurück - auch mit dem Risiko einer selbstzerstörerischen Verminderung der Lebensqualität.

. .

Der Ethnologe Franz Stadelmann kam 1988 als Entwicklungshelfer nach Madagaskar. 1994 gründete er das madagassische Reisebüro PRIORI in Antananarivo. PRIORI organisiert Reisen mit mehr Hintergrund und tieferen Einblicken in die Licht und Schatten dieser Insel im Indischen Ozean. 'Sanftes Reisen' soll den BesucherInnen als auch den Besuchten gegenseitiges Verständnis erwecken. PRIORI engagiert sich auch sehr im sozialen und kulturellen Leben Madagaskars. PRIORI steht für Ihre Reisepläne gern zur Verfügung - auch in deutscher Sprache.

.
Wir nehmen Ihre Kommentare und weiterführenden Texte zu obigem Thema gern auf. Tragen Sie sich bitte in unser Gästebuch ein.
.
.
dieses Kapitel drucken

zurück zum Inhaltsverzeichnis

Madagaskar, das PRIORI-Buch

Franz Stadelmann

copyright PRIORI 2009

priori@moov.mg

.
.

PRIORI Antananarivo

.
.

PRIORI Antananarivo