20. Juli
2005. Im Kino Scala
in St. Gallen ist eben der Film Madagascar angelaufen. Hoch
oben in Speicher hingegen wartet ein Triebwagen der
Trogenerbahn auf die lange Reise nach Madagaskar: per
Lastwagen nach Basel, dann weiter per Schiff namens Love
Story.
Die
Trogenerbahn befuhr erstmals 1903 die Strecke St. Gallen
nach Trogen. Von 672 m. ü. M. in St. Gallen klettert die
Meterspurbahn auf 918 m in Trogen und ist die steilste
Meterspurbahn der Schweiz. Zu Zeiten, als der Billettverkauf
noch in hölzernen Haltestellen durch einen Bahnangestellten
geschah, wurde der Triebwagen BFe 4/4 6-8 in Pratteln
erbaut. Seither war das ursprünglich blau-weiss gestrichene
Fahrzeug auf dieser Route unterwegs und machte fast 1,3
Millionen Kilometer. Auch sonst konnte die 9,8 km lange
Trogenerbahn anlässlich ihres 100-jährigen Jubiläums im
Jahr 2003 mit eindrücklichen Daten aufwarten: 434 Mal um
die Welt, 25'600 Tonnen Gepäck und 68,2 Millionen
Passagiere befördert. Vor Jahren dann wurde aus der
blau-weissen Farbgebung ein grelles Orange und der treue
Triebwagen aus dem Jahr 1952 galt als veraltet. Ob er
verschrottet worden wäre, wie eines seiner
Schwesterfahrzeuge, ist unklar. Jedenfalls tauchte Frank
West auf und ermöglichte dem Triebwagen ein zweites Leben
auf der Lemureninsel im Indischen Ozean.
Frank West
arbeitete vor Jahren für die Entwicklungshilfe in
Madagaskar und begeisterte sich für die dortigen Bahnen.
Auf Madagaskar führt eine Bahn mit Seitenlinien von der
Hauptstadt Antananarivo, kurz Tana, zur Hafenstadt Tamatave
und ein anderes Netz verbindet die südliche Stadt
Fianarantsoa mit der Hafenstadt Manakara. Beide Meterbahnen
waren in den 90er Jahren und schon vorher in lamentablem
Zustand. Sie waren vor rund 100 Jahren von der französischen
Kolonialmacht erbaut worden und seit der Unabhängigkeit
Madagaskars - 1960 - kaum je unterhalten worden. So wurden
Teilstücke lahmgelegt oder es durften nur noch Frachtzüge,
nicht mehr aber Passagierzüge fahren. Zu gross war das
Risiko: die Bahnkörper sind durch die heftigen Tropenregen
unterspült und der Fuhrpark ist veraltet. Zurück in der
Schweiz begann Frank West ab 1998, ein Solidaritätsnetz der
Schweizer Bahnen aufzubauen. So gingen bislang 4000 Tonnen
nach Madagaskar: Wagons, Triebwagen, Schienen und Schwellen.
Dadurch wurde insbesondere die Eisenbahn von Fianarantsoa
nach Manakara rehabilitiert: rund 70 km Gleis wurden neu
verlegt.
In der 1,5
Mio. grossen Hauptstadt Antananarivo jedoch erstickt im
Verkehr. Das frühere städtische Eisenbahnnetz von 25 km,
das die Industriebetriebe der Vorstädte bedienen sollte,
ist längst Rost, Überschwemmungen und Diebstahl zum Opfer
gefallen. Die Linien sind zwar noch sichtbar und unbebaut,
doch sie müssen von Grund auf neu verlegt werden. Frank
West organisierte Schwellen, die mitsamt der Schienen in 15
Meter langen Paketen nach Madagaskar gingen. Und er
organisierte Fahrzeuge für die TUT, die ’Train Urbain de
Tana’. Allerdings ist die TUT noch ein sehr virtuelles
Unternehmen: Bürokratie und wohl auch andere Prioritäten
sind noch zu lösen.
Nun
jedenfalls ist der Triebwagen im Hof des Depots in Speicher
bereit. Die beiden Kranwagen der Emil Egger AG haben sich in
Position gebracht und der Schlepper der Toggenburger
Transport AG ist ebenfalls pünktlich zur Stelle. Firmenchef
Heini Egger persönlich steuert einen der beiden Pneukrane.
Ausmessen, anheben und auf den Trailer stellen ist alles
Routinesache.
Dann
verbindet man dem Wagon die hinteren Augen mit einem
Werbebanner der ITS (International Transport & Shipping),
der Firma aus Therwil, die diesen Transport von Speicher bis
Antananarivo organisiert hat. Die Fahrt hinunter nach St.
Gallen verläuft dem Bahntrasse entlang, auf dem dieser
Triebwagen schätzungsweise 100'000 Mal hin und hergefahren
ist. Auf dem Geleise nebenan rauschen die neuen
Kompositionen vorbei, mit lockeren Sprüchen beschrieben:
Szenenwechsel zwischen Stadt und Land. In den Strassen von
St. Gallen bleiben Leute stehen und schauen dem Konvoi nach,
jemand ruft ’tschau’ und damit verlässt diese Eisenbahn
die Stadt und somit ihre Heimat.
Unterwegs
ergeben sich keine Probleme: Andy und Bruno haben jahrelange
Erfahrung im Schwertransport und sie steuern ihr Gefährt
routiniert über die Landstrassen. Die Abendsonne glitzert
herrlich zwischen Bäumen hindurch. Töfffahrer flitzen
vorbei, Radfahrer mit bunten Helmen drehen sich um. Leute
sitzen draussen und schauen diesem orangenen Gefährt nach,
das auf einem dottergelben Tieflader im Tempo 50 dahinzieht.
Irgendwo
stehen am Wegrand zwei kleine Elefanten. Die orange Bahn
wird keine mehr sehen: in Madagaskar gibt es keine Elefanten
– und übrigens auch keine Löwen, Zebras, Nilpferde oder
Giraffen wie im Film.
Ein Bauer
schaut aus dem Melkstall heraus und ruft verwundert ’ein
Tram’, sein Knecht antwortet ungläubig: ’ja ein Tram’
und verdutzt lehnen sie sich aus der Scheunentür.
Für die
Toggenburger Jungs ist der Tag noch nicht zu Ende. Entlang
von Maisfeldern und zwischen Obstbäumen hindurch geht die
Fahrt hinunter nach Zuzwil. Dort weiden satte Kühe, im
fernen Madagaskar wird der Triebwagen auf Zebus mit mageren
Rückenbuckeln stossen. Die orange Bahn nimmt Abschied von
der Schweizer Kuhwelt.
Nach den
engen Kurven in Elgg hebt Bruno einen Markierungspfosten
aus, damit der Trailer die Einfahrt auf die Strasse nach Räterschen
schafft. Kurz darauf sind wir im Hof der Toggenburger
Transport AG und dort übernachtet der Wagon. Am kommenden
Morgen geht’s auf Landstrassen weiter: kein Meter Autobahn
ausser auf dem Zurzacher Autobahnstummel. Über die
Kiesstrasse nach Dielsdorf, durch Wälder und entlang von
Kiesgruben, später wieder Richtung Rhein.
In einem
Gartenzentrum stehen fünf Meter hohe Palmen und davon wird
die Bahn in Madagaskar noch etliche sehen. In flottem Tempo
Richtung Zurzach, vorbei an Mais- und Weizenfeldern, so
schnell ist diese Bahn noch nie gefahren.
In
Degerfelden dann Weinberge, auch in Madagaskar gibt es sie.
Doch die Trogenerbahn wird nie mehr Reben sehen, denn sie
wird in der Agglomeration Antananarivo im Einsatz stehen.
Die südliche Eisenbahn hingegen durchquert in Fianarantsoa
Weinberge wie auch Teeplantagen.
Vor
Laufenburg eine Kaffeepause im Restaurant Sonne. Die Wirtin
fragt, warum die Bahn mit dem Lastwagen transportiert werde,
wo doch nebenan Schienen liegen. Andy gefällt sein Job.
Seit 16 Jahren ist er dabei und ist nun der dienstälteste
Fahrer in der Schwertransportabteilung von Toggenburger.
Allerdings sei in dieser Abteilung noch nie ein Fahrer
pensioniert worden, meint er, die Leute würden in andere
Bereiche versetzt, weil der Betrieb mit seinen neun
Fahrzeugen ein hektischer Job sei und einen vollen Einsatz
verlange, quasi jede Minute sei verplant.
Im Birsfelder
Auhafen erwartet eine grosse Schar den Schwertransport:
Journalisten, Eisenbahnfans und sogar der Botschafter von
Madagaskar ist aus Genf angereist, zusammen mit seinem
Berater.
Insgesamt
werden elf Wagen mitsamt Schienen, Schwellen und
Ersatzteilen verladen. Für den Kran der Ultra Brag sind
diese Wagons kein Gewicht. Der 300 Tonnen Kran hebt die
Wagons samt Schienenstücken wie Spielzeuge auf und versenkt
sie in den Bauch der Love Story. Das Rheinschiff bringt die
457 Tonnen schwere Fracht in vier Tagen nach Antwerpen. Dort
werden die Wagons auf einen Ozeanfrachter umgeladen und um Südafrika
herum nach Madagaskar gebracht. Die kleine Bahn aus dem
Appenzell hat eine grosse Reise vor sich – und sie wird
nie mehr Schnee sehen.
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